Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten im Landesmuseum Württemberg – der Beginn einer kritischen Beschäftigung | Teil 1

Die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe deutscher Museen nimmt seit einigen Jahren an Fahrt auf. Während anfangs der Blick vor allem auf ethnologische Sammlungen gerichtet war, stellen sich zunehmend andere Museen ihrer kolonialen Vergangenheit.

Auch das Landesmuseum Württemberg hat in diesem Jahr begonnen, seine Sammlung auf Objekte aus kolonialen Kontexten zu untersuchen. Das Projekt „Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten im Landesmuseum Württemberg – ein Erstcheck“ wurde gefördert vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste (DZK).

Ein „Erstcheck“ als Auftakt

Im Rahmen dieses „Erstchecks“ wurde von 1. Februar bis 15. Juli 2023 eine Auswahl an Objekten auf ihren kolonialgeschichtlichen Hintergrund überprüft. Dabei standen sehr unterschiedliche Stücke im Fokus – sie stammen aus unterschiedlichen Regionen, aus gut eineinhalb Jahrtausenden und gehören heute zu den verschiedenen Sammlungsbereichen des LMW. Überprüft wurde dabei, unter welchen kolonialen Kontexten sie in die Sammlung kamen oder einst entstanden sind. Auch Objekte europäischer Herkunft, die aber in ehemaligen Kolonien Verwendung fanden, waren Gegenstand des Erstchecks. Als Arbeitshilfe diente der Leitfaden zum „Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ des Deutschen Museumsbunds – der von einer interdisziplinären Arbeitsgruppe während eines vierjährigen Prozesses erarbeitet wurde und im Jahr 2021 in der 3. Fassung erschienen ist.

Ziele des Projekts

Neben der Provenienzforschung im engeren Sinne – also der Recherche nach Vorbesitzer*innen und den Umständen der Besitzer*innenwechsel – war ein wichtiges Ziel des Projekts, den kolonialen Kontext der Objekte festzustellen, sichtbar zu machen und u.a. über eine digitale Veröffentlichung, Transparenz zu schaffen. Da in der Kürze der Zeit keine abschließende Tiefenerforschung möglich war, ging es zudem darum, den weiteren Forschungsbedarf und Rechercheansätze auf diesem Gebiet zu ermitteln.

Im heutigen Blogbeitrag stellen wir Euch ein untersuchtes Objekt aus der Archäologie vor, das als Teil eines Konvoluts „römische[r] Gegenstände, ausgegraben in der Nähe von Jaffa“ (wie es in dem Inventar heißt, das hier als Beitragsbild zu sehen ist) angekauft wurde:

Antike Gläser aus Jaffa

Gegenstand des Erstchecks sind unter anderem sieben antike Gläser, darunter vier schmale Fläschchen, ein konischer Becher, eine kugelige Flasche und eine Kohelröhre. Sie wurden in der Zeit vom 1. bis 6. Jh. n. Chr. in der Region Palästina hergestellt und vor 1896 wohl in Jaffa und Umgebung gefunden. Nähere Umstände zur Herkunft, Art der Ausgrabung und den Verkaufsmodalitäten vor Ort sind nicht bekannt. Jaffa war in antiker Zeit Teil der römischen Provinz Judäa.

Eine Doppelglasröhre für Augenschminke

Römische Kohelröhre mit Korbhenkel aus Glas (Inv. Nr. 5.489), Foto: Landesmuseum Württemberg, P. Frankenstein / H. Zwietasch.

Bei der äußerst filigranen, v-förmigen Doppelröhre mit Korbhenkel (1) aus Glas handelt es sich um eine Kohelröhre (Inv. Nr. 5.489), also einen Behälter für schwarze Augenschminke (arabisch Kokhl). Diese Art von Make-up war in antiker Zeit bei Männern und Frauen im gesamten Nahen Osten beliebt.

Die mit Henkel 16,5 cm hohe Doppelröhre wurde aus einer stark gelängten, dann umgebogenen und eng zusammengefügten Glasblase hergestellt. An beiden Außenseiten der Röhren wurde je ein kleinerer Henkel vom Hals bis zur Oberkante des Randes gezogen und dort abgeschnitten. An diese Enden wurde ein umlaufender Korbhenkel angesetzt.

Das Gefäß kann nicht stehen. Im Inneren befindet sich eine sehr dünne, außen eine dicke cremefarbene Iris. Dieser Typus der Kohelröhre wurde in spätrömischer und frühbyzantinischer Zeit (4.-6. Jahrhundert n. Chr.) im Gebiet des antiken Palästinas produziert und fast ausschließlich dort benutzt.

Bei unserem Exemplar handelt es sich wahrscheinlich um eine Grabbeigabe.

Erwerb im Jahr 1896

Die in der Nähe von Jaffa (heute Tel Aviv-Jaffa, Israel) gefundene Kohelröhre wurde 1896 von der Vorgängereinrichtung des heutigen Landesmuseums Württemberg, die „Königliche Staatssammlung vaterländischer Kunst- und Altertumsdenkmale“, angekauft.

Erworben wurde sie von Richard Großmann (1873–1916). Der gebürtige Stuttgarter war damals in der Region Palästina als Hotelier und Hobbyfotograf tätig. (2) Bereits 1890, mit 17 Jahren, war er dorthin übergesiedelt und hatte sich der württembergischen Tempelgesellschaft angeschlossen.

„Jerusalem Hotel“ in Jaffa (undatiert), Foto: www.karl-may-wiki.de.

Anfangs arbeitete Großmann im „Jerusalem Hotel“ in Jaffa, das vom derzeitigen US-Konsul Ernst Hardegg (1840–1911) geführt wurde, dem Sohn des Mitbegründers der Deutschen Tempelgesellschaft Georg David Hardegg (1812–1879).

1894 eröffnete Großmann, der außerdem gelernter Konditor war, das Hotel „Tiberias“ in der gleichnamigen Stadt (heute Israel). Als Großmann im Jahr 1896 das antike Glas dem Museum verkaufte, hielt er sich bei seiner Familie in Stuttgart auf, die in der Hauptstätterstaße 69 das Leinengeschäft „Großmann-Kirchhofer“ führte.

Inventarbucheintrag: „erworben von Richard Großmann in Jaffa, derzeit in Stuttgart (Hauptstätterstr. 69)“, Quelle: Inventar der Sammlung vaterländischer Kunst- und Alterthumsdenkmale, Band II (Nr. 6354 bis 11066, begonnen im August 1862), hier: Eintrag Nr. 10921.

Koloniale Kontexte in der Region Palästina

Sowohl Jaffa als auch Tiberias bzw. die Region Palästina waren zum damaligen Zeitpunkt Teil des Osmanischen Reichs. Dieses beherrschte lange Zeit weite Teile des östlichen Mittelmeerraumes. Das führte zu ungleichen Machtverhältnissen innerhalb des Herrschaftsgebietes. Ende des 19. Jahrhunderts befand sich das Osmanische Reich im Niedergang. Deshalb konnten v.a. England, Frankreich und Deutschland ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen in der Region, u.a. durch Freihandelsverträge, durchsetzen.

Das Gebiet stand somit zusätzlich zur osmanischen Herrschaft auch unter dem wachsenden Einfluss europäischer Imperialmächte. Dieser Einfluss wurde auch zur Aneignung von Kulturgütern genutzt, etwa wenn im Gegenzug für Kredite oder wirtschaftliche Unterstützung die Ausbeutung von Ressourcen verlangt wurde. (3) Ein prominentes Beispiel dafür ist der von der Deutschen Bank finanzierte Bau der „Bagdadbahn“ ab 1903 und die damit verbundene Bergung archäologischer Funde entlang der Bahntrasse.

Im Fall der 1896 erworbenen antiken Kohelröhre sind die genauen Umstände der Auffindung oder Ausgrabung des Objekts bislang nicht bekannt. Aufgrund der historischen ungleichen Herrschafts- und Machtverhältnisse innerhalb des Osmanischen Reichs sowie der damaligen Einflussnahme europäischer Staaten in der Region, sind wir aber sensibilisiert und haben im Rahmen des Erstchecks begonnen, die Herkunft detaillierter zu überprüfen.

Im zweiten Teil des Berichts erfahrt Ihr mehr über eine Münze aus „Deutsch-Neuguinea“.

 

(1) Margreth Honroth, Vom Luxusobjekt zum Gebrauchsgefäß. Vorrömische und römische Gläser (Stuttgart 2007) S. 67 f. Kat. 112.

(2) Zu Richard Großmann: Nurit Carmel/ Jakob Eisler, Die neue Heimat im Heiligen Land – Fotografien württembergischer Templer 1868-1948, Stuttgart 2022, S. 24.

(3) Katarina Horst, Provenienzforschung – Warum wir uns mit Objekten aus kolonialem Kontext beschäftigen sollten, in: Blickpunkt Archäologie 3 (2022) S. 180-190.

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