Vielseitig und selbstbewusst. Neuerwerbung: Theodor Steibs Selbstbildnis beim Schreiben oder Zeichnen

„Jingle bells“ oder „Last Christmas“ haben den Marktplatz von Rothenburg ob der Tauber nicht beschallt, aber viele Menschen werden sich dennoch gedrängt haben. Am Sonntag nach Nikolaus, den 7. Dezember 1651, gab es auf dem Weihnachtsmarkt bestimmt Einiges zu sehen und zu kaufen. Im Angebot waren auch kleine Holztäfelchen (Abb. 4), bemalt von einem jungen Mann, der Aufsehen erregte: Der 24-jährige Theodor Steib war mit einem Wagen und drei Dienern nach Rothenburg gekommen. Er setzte Schreiben auf und fertigte Scherenschnitte an („allerley künstlich Laubwerk, Adler, Vögel, Jägereybilder, so rein und subtil, daß es manß kaum sehen können“, zitiert nach Möhring/Huggenberger, S. 90). Daneben führte er vor, wie er aß und trank oder mit einer Pistole schoss. Dies alles tat er ausschließlich mit Hilfe seiner Füße, denn Arme besaß er von Geburt an nicht. Damit gehörte Steib zu den wenigen Menschen mit körperlicher Behinderung, die im 17. Jahrhundert selbstbestimmt für ihre Bekanntheit sorgten. Es war das Geschäftsmodell des gebürtigen Wieners, zu reisen und auf Märkten sich und seine Fertigkeiten „auszustellen“.

Ein Rollenmodell aus Schwäbisch Hall

Essen, Trinken und das Betätigen einer Waffe gehörte zum Repertoire derartiger „Fußkünstler*innen“, bei Frauen kam häufig noch das Nähen hinzu. Indem er das Schreiben beherrschte – eine Fertigkeit, die in der Frühen Neuzeit noch lange nicht für alle selbstverständlich war –, stellte sich Steib in eine Linie mit seinem berühmten „Kollegen“ Thomas Schweicker (1540–1602). Dieser war ein ebenfalls ohne Arme geborener Sohn eines Bäckermeisters und Ratsherrn aus Schwäbisch Hall, der das Schreiben mit dem Fuß perfektioniert und sogar Kaiser Maximilian II. und dem Heidelberger Hof vorgeführt hatte. Das Andenken des berühmten Kalligraphen überliefern zahlreiche Objekte, die ihren Weg in fürstliche und bürgerliche Kunstkammern fanden, darunter Schriftproben, Gemälde, Medaillen (Abb. 1) oder gar ein Backmodel (Abb. 2).

Silbergraue, abgegriffene Medaille mit reliefartiger Darstellung des Künstlers

Abb. 1: Medaille auf Thomas Schweicker

Hölzerne, runde Backform mit eingeriztem Motiv einer Figurengruppe

Abb. 2: Form für Gebäck mit Darstellung von Thomas Schweicker

 

 

 

 

 

 

 

Theodor Steibs self-fashioning

Vergleicht man das etablierte Bild des schreibenden Schweicker (Abb. 3) mit der Art und Weise, wie sich Theodor Steib dargestellt hat, so sind die Ähnlichkeiten unverkennbar: Auch Steib zeigt sich aktiv und mit einem konzentrierten Blick auf das Papier (Abb. 4). Auf seine Tätigkeit als Schreiber oder Zeichner nehmen die zwei Fässchen, Federn und eine weitere Rohrfeder (?) neben ihm Bezug. Auf der rechten Seite deuten Schere, Papier und eine weiße symmetrische Form auf das Anfertigen von Scherenschnitten. Ergänzt werden sie durch zwei Gefäße, einen zinnernen Bierhumpen oder eine Schenkkanne sowie ein Trinkgefäß, während bei Schweicker Blumenstrauß und Buch derart stilllebenhaft angeordnet sind. Diese Attribute weisen auf dessen Bildung hin, und tatsächlich ist die Verbindung von Gelehrsamkeit und körperlicher Behinderung eine Konstante, der auch Theodor Steib entsprechen wollte. Er war zwar kein Schulmeister wie Schweickers Vorgänger auf einem Flugblatt aus Schwäbisch Hall (Abb. 5), doch mag die Einfügung eines lateinisch anmutenden Wortes in die Bildunterschrift genau dieser Ambition gedient haben.

„Dises Contrafet hab ich Theodorus Steib ohne hendt / unnd Arm, gemahln . [Rev? oder Ac v?]er[ten?]do mitt meinen Fues. / in Rottenburg, den . 7 . December Anno . 1651 .“

Drei Jahre später muss Steibs Professionalisierung in dieser Hinsicht fortgeschritten sein: Ein möglicherweise vergleichbares Gemälde, auf dem er sich einer Quelle des 18. Jahrhunderts zufolge in Rot gekleidet und mit einer schwarzen Feder auf dem Hut präsentierte, wies eine vollständig auf Latein verfasste Inschrift auf (Sammlung Von Natur= und Medicin, S. 206).

Ein Mann ohne Arme sitzt in der Hocke und schreibt mit seinen Füßen auf ein Blatt Papier.

Abb. 3: Ausschnitt eines Flugblatts mit Thomas Schweicker

Gemälde: Ein Mann ohne Arme hockt auf einem Tisch und zeichnet mit den Füßen.

Abb. 4: Selbstporträt von Theodor Steib

Ein Stammbuch als Verbindung

Tatsächlich gibt es einen unmittelbaren Berührungspunkt zwischen Schweicker und Steib: Als letzterer im Oktober 1651 in Regensburg war, ließ man ihn in ein Stammbuch eintragen. Ein solches „Poesiealbum“ war in der Frühen Neuzeit ein großer Schatz, enthielt es doch Widmungen – und damit sichtbare Netzwerke von Beziehungen. Nachfahren des ursprünglichen Besitzers Christoph Donauer (1564–1611) ließen Steib nun ausgerechnet auf der Rückseite jener Seite unterschreiben, die Schweicker knapp fünfzig Jahre zuvor gestaltet hatte (S. 533–534 im Digitalisat).

Gelbbraune Buchseite mit federgezeichnetem Torbogen und Schrift.

Abb. 5: Von Thomas Schweicker gestaltete Seite

Gelbbraune Buchseite mit Schrift; der Name Theodor Steib ist deutlich lesbar.

Abb. 6: Ausschnitt der von Theodor Steib beschriebenen Seite

Malen als Ausnahme

Ein Unterschied ist allerdings wichtig: Anders als Schweicker oder andere „Fußkünstler*innen“ im 17. und 18. Jahrhundert malte Steib auch. Der bereits oben zitierte Rothenburger Chronist beschrieb ihn als „ein künstlichen Maler, wie er denn viel Herren des Raths abcontrafehet“. Die Bemerkung, er habe Bildnisse von Ratsherren geschaffen, zeigt, dass er Kontakte in die höchsten Kreise der Stadt aufbaute. Zugegebenermaßen lebte Steibs Popularität aber auch von Kuriosität, der Neugierde und Faszination für das Ungewöhnliche. Steib gehörte zur Gruppe von Fahrenden und stand so außerhalb der bürgerlichen Ordnung. Deshalb ist es schon fast vermessen, dass er mit dem Anfertigen von Porträts in einem Terrain „wilderte“, das eigentlich nur zünftigen Malern zustand (Ratsherren konnten die Regeln freilich am einfachsten aushebeln). Die Zünfte, in denen sich die Maler wie jede andere Gruppe von Handwerkern zusammengetan hatten, sollten die Ausbildungsqualität und Produktstandards sichern. Außerhalb der lokal gebundenen Organisation von ihnen agierten Hofkünstler und andere Reisende. Schon aus diesem Grund ist es bemerkenswert, dass Steib, der zweifellos nie eine offizielle, von einer Zunft anerkannte Ausbildung genossen hatte, sich die Freiheit nahm, ein Wappen in sein Selbstporträt einzufügen. Im linken Hintergrund prangt nichts anderes als das weit verbreitete Zunftzeichen der Malergilden. Bediente er sich dessen, um den Rollenmodellen (Abb. 7) ebenbürtig zu werden?

Flugblatt: Eine bunte Bilderreihe zeigt Thomas Scheicker und seine Vorfahren in einer Linie.

Abb 7.: Flugblattausschnitt mit Thomas Schweicker und seinen Vorfahren.

Verkaufsware

Die kleine, nur 13,2 x 10,3 cm große Holztafel ist das einzige erhaltene Zeugnis für Steibs Tätigkeit als Maler. Sie war ebenso Verkaufsprodukt wie Bestandteil seines self-fashioning. Er mag sie direkt auf dem Weihnachtsmarkt gemalt haben – was die Inschrift behauptet – oder sie bereits auf Vorrat angefertigt haben. Hierfür spricht die im Vergleich zu einem Schriftstück längere Vorbereitungs- und Trocknungszeit, mit der man zu rechnen hat, auch wenn die Malerei wie in diesem Fall keinen komplexen Schichtaufbau besitzt. Wenige Monate später, im Februar 1652, ließ Steib in Nürnberg einen Druck anfertigen (Abb. 9). Schon 1661 hatte er einen qualitativ besseren Druck im Angebot, der ebenfalls in Nürnberg angefertigt und von ihm selbst koloriert worden sein könnte (Abb. 8). Mit ihm gemeinsam erhalten hat sich sogar ein äußert feiner Scherenschnitt! (Abb. 8). Derartige Blätter ließen sich noch einmal günstiger verkaufen als ein kleines Gemälde.

Kolorierter Kupferstich: Ein Mann malt mit den Füßen und ein Engel zeigt auf seine Füße.

Abb. 8: Kupferstich mit Scherenschnitt, 1661

Druck: Ein Mann schreibt mir seinen Füßen einen Text.

Abb. 9: Kupferstich aus Nürnberg, Februar 1652

Eine wichtige Ergänzung

Theodor Steibs Selbstporträt konnte jüngst mit Lotto-Mitteln aus Privatbesitz (Kreitz-Karla) angekauft werden. Es ergänzt die umfangreiche Sammlung an kleinformatigen Porträts und Miniaturen des LMW mit einem wichtigen Zeugnis für das Leben einer gesellschaftlich benachteiligten Persönlichkeit aus der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg. Zu Weihnachten 1651 lebte Steib von seinem Außenseitertum. Eine bürgerliche Existenz war ihm nicht vergönnt, dennoch heiratete er später in Wien, der Stadt, in die sein Vater als Tagewerker aus dem oberschwäbischen Ochsenhausen zugezogen war. Er wurde zwei Mal Vater, bevor er schon 1663 als „würdiger Armer“ starb – in der reichen Schweizer Bäderstadt Baden, wo er noch immer Bilder malte. Sein Selbstporträt wird als Neuerwerbung im Landesmuseum Württemberg präsentiert und ist von Ende Januar bis Mai 2025 zu sehen.

Literatur

Die für Rothenburg ob der Tauber relevante Quellenpublikation, weitere Recherchen und die Eintragung des Objekts in die Datenbank wertvoller Kulturgüter wurde von den Vorbesitzern angeregt.

Hellmuth Möhring/Florian Huggenberger, Der Fußmaler Theodorus Steib 1651 auf dem Rothenburger Weihnachtsmarkt, in: Die Linde. Beilage zum Fränkischen Anzeiger für Geschichte und Heimatkunde von Rothenburg/Tbr. Stadt + Land 104 (2022), S. 90–93
Art. Theodor Steib, in: Wien Geschichte Wiki (angelegt 2023), Link
Benjamin Ryser, Baden und die Armenfürsorge in der Frühen Neuzeit : Akteure und Praktiken gegen den gesellschaftlichen Untergrund, in: Badener Neujahrsblätter 92 (2017), S. 100–105, hier: S. 103–104, Link
Ergänzend:
Sammlung Von Natur= und Medicin- Wie auch hierzu gehörigen Kunst= und Literatur-Geschichten So sich An. 1720 in den 3. Winter=Monaten In Schlesien und andern Ländern begeben […] von Einigen Academ. Naturae Curios. in Breßlau, Bd. 11, Leipzig/Bautzen 1720, Link

Abbildungsnachweis und Nutzungsbedingungen

Abb. 1: Medaille, Silber, gegossen, 1597; Landesmuseum Württemberg (CC BY-SA 4.0), MK 27290

Abb. 2: Gebäckmodel, Birnenholz, um 1600; Landesmuseum Württemberg (CC BY-SA 4.0), WLM 9453

Abb. 3: Druckgraphik, 1593-1602; Germanisches Nationalmuseum

Abb. 4: Selbstporträt von Theodor Steib, Öl auf Eichenholz, 1651; Landesmuseum Württemberg, Jonathan Leliveldt (CC BY-SA 4.0), WLM 2024-13

Abb. 5: Stammbuch der Familie Donauer; Privatbesitz, Staatliche Bibliothek Regensburg (CC BY-NC-SA 4.0)

Abb. 6: Stammbuch der Familie Donauer; Privatbesitz, Staatliche Bibliothek Regensburg (CC BY-NC-SA 4.0)

Abb. 7: Druckgraphik, 1582; Germanisches Nationalmuseum

Abb. 8: Kupferstich mit Scherenschnitt, 1661; Foto: Almut Pollmer-Schmidt, ausgestellt bis 3.3.2025 in der Ausstellung „Bewundert, gesammelt, ausgestellt“ im Grünen Gewölbe, Dresden

Abb. 9: Einblattdruck, um 1652; Germanisches Nationalmuseum

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