Naturkatastrophen gab es schon immer, und wir haben sie stets ganz unterschiedlich gedeutet. Früher waren sie eine „Strafe Gottes“, heute sieht man immer häufiger den Menschen selber als Verursacher. Sie führen uns die Veränderungen, die wir an der Umwelt vornehmen, und die Schäden, die wir hinterlassen, vor Augen.
1816: Württemberg nach dem großen Knall
Zwischen Alb und Neckar gibt es längst keine aktiven Vulkane mehr. Aber dennoch spürte man hier vor 200 Jahren die Auswirkungen der stärksten Eruption der Menschheitsgeschichte. 1815 brach der Vulkan Tambora auf der Insel Sumbawa im heutigen Indonesien aus. Auch wenn er buchstäblich auf der anderen Seite der Welt lag, so brachte er das Wetter in Europa in den kommenden Jahren gehörig durcheinander. Der Vulkan schleuderte eine gewaltige Staub- und Aschewolke in die Stratosphäre. Als Folge kühlte das Weltklima ab. Regen und Hagel zerstörten die Ernten, die Preise für Lebensmittel stiegen, und eine schlimme Hungersnot folgte. 1816 ging als das „Jahr ohne Sommer“ in die Geschichtsbücher ein.
Solch ein Ereignis geht nicht spurlos an den Menschen vorbei. Zahlreiche Quellen sprechen von den Hungerjahren 1816/1817. Eine besonders bekannte ist die sogenannte „Laichinger Hungerchronik“. Der Lehrer Christian August Schnerring (1870-1951) aus Laichingen veröffentlichte die „Aufzeichnungen eines Älblers über die Teuerung und Hungersnot 1816/17“ mehrere Male zwischen 1913 und 1937.
Auf den 40 handbeschriebenen Seiten finden sich eingängige Beschreibungen von den Zuständen in Laichingen während der Hungerkrise. Dabei fällt auf, dass der anonyme Verfasser jüdischen Getreidehändlern aus dem Nachbarort Buttenhausen vorwirft, aus der Teuerung Profit zu schlagen und so den Hunger zu verschlimmern.
Lange Zeit galt die „Laichinger Hungerchronik“ als eine authentische historische Quelle. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Dokument trotz seines antisemitischen Inhalts häufig zitiert. Die Deutung der Chronik entsprach damals neueren Tendenzen der Forschung, denn die Hungerkrise erscheint in der Darstellung zwar als Folge von Schlechtwetter, ihre tieferen Ursachen werden aber auf menschliches Handeln zurückgeführt.
Alles nur gelogen!
All das änderte sich 1987. Günther Randecker, damals Stadtarchivar in Münsingen, entlarvte das Dokument als Fälschung! Schnerring selbst solle die Chronik verfasst haben. Der Verdacht bestätigte sich, als Randecker Tinte und Papier des Originals untersuchen ließ und die Angaben in der Chronik mit anderen Quellen verglich.
Warum machte Schnerring sich die Mühe, diese Fälschung zu verfassen?
Die Antwort auf diese Frage findet man auch bei uns in der Landesstelle für Volkskunde. Wir besitzen eine auszugweise Veröffentlichung von Schnerrings Chronik in den Jahrbüchern für Statistik und Landeskunde für das Jahr 1916. In diesem Jahr litt Deutschland, ganz wie im „Jahr ohne Sommer“, unter einer Hungersnot. Der Grund war dieses Mal der Erste Weltkrieg. Der sogenannte „Steckrübenwinter“ 1916/1917 war besonders schlimm.
Schon damals war Schnerrings Botschaft klar: Er sprach die Bauern von jeglicher Schuld frei, pries die Maßnahmen des jungen König Wilhelms I. und verdammte die „jüdischen Kornwucherer“. Sein Motiv dürfte dabei gewesen sein, an einem historischen Modellfall Vergleichspunkte für die Erfahrungen der Gegenwart zu bieten. Er wollte damit die Bereitschaft und Akzeptanz seiner Leser für die Zwangswirtschaftsmaßnahmen der Reichsregierung fördern. Die „Laichinger Hungerchronik“, eine gut erzählte „Fiktion des Faktischen“, war für ihn dabei ein Mittel zum Zweck, um Aufmerksamkeit und Glaubwürdigkeit zu gewinnen und seine jüdischen Mitbürger waren ihm ein willkommener Sündenbock.
Was lernen wir daraus?
Warum saßen viele Leute, Wissenschaftler und Laien, der Fälschung auf? Ganz einfach: Sie erzählt eine gute Geschichte. Wenn eine Katastrophe über uns hereinbricht, brauchen wir etwas, um sie zu verarbeiten. Eine Geschichte wie die „Laichinger Hungerchronik“, mit einer klaren Schuldzuweisung, klar dargestellten Schuldigen, spricht uns sehr stark an, auch wenn die Katastrophe schon länger zurückliegt. Für die Landesstelle für Volkskunde ist die „Laichinger Hungerchronik“ auch als Fälschung interessant. Sie ist ein eindringliches Beispiel dafür, wie Fälschungen weite Kreise in der Wissenschaft ziehen können. „Fake News“ sind also nichts Neues, es gab sie schon vor hundert Jahren hier in Württemberg!
2 Kommentare zu “Fake News – Auf den Spuren der "Hungerchronik"”