Zwei Sammler, eine Leidenschaft – zur Geschichte eines einzigartigen Kännchenpaars

Objekte können viele Geschichten „erzählen“ – darunter die Geschichten ihrer früheren Besitzer*innen. Ein blaues Kännchenpaar aus unserer Glassammlung hat eine besonders bewegte Vergangenheit – und vereint Leben und Schicksal zweier passionierter Sammler: Ernesto Wolf (1918–2003) und Maximilian von Goldschmidt-Rothschild (1843–1940). Beide waren einst stolze Besitzer dieser kostbaren Gefäße.

Sowohl Wolf als auch von Goldschmidt-Rothschild waren herausragender Kenner von historischem Kunsthandwerk und wussten somit um den kunsthistorischen Wert dieses Objektpaars: Die beiden Kännchen wurden im 16. Jahrhundert hergestellt und bestehen aus blauem Glas mit Kaltfarbenmalerei und Golddekor. Die vorzügliche Malerei kann stilistisch nur in Italien verortet werden, vermutlich in der Toskana oder in Umbrien. Es wird vermutet, dass es sich bei diesen ca. 23 Zentimeter hohen Kännchen um außergewöhnliche Stücke handelt, da weder zur Gefäßform noch zum gemalten Dekor Parallelen bekannt sind. [1] Die ursprüngliche Funktion der Kännchen ist ungeklärt – denn sie erfüllen nicht die liturgischen Voraussetzungen für eine Nutzung als Meß- oder als Taufkännchen. Fest steht aber – die Stücke sind einmalig!

Kännchenpaar mit Kaltfarbenmalerei und Golddekor (Inv. Nr. 1991-157a-b).

Gemeinsam mit 220 weiteren Glasobjekten erwarb das Landesmuseum Württemberg (LMW) die Glaskännchen am 20. März 1991 direkt bei Ernesto Wolf. Später übernahm das LMW noch mehr als 1.000 Objekte aus der Sammlung Wolf, die heute mit Ausnahme der islamischen Gläser komplett im Besitz des Museums sind.

Der Sammler Ernesto Wolf

Der Unternehmer und Kunstsammler Ernesto Wolf wurde 1918 in Stuttgart geboren und stammte aus einer jüdischen Unternehmerfamilie, die seit mehreren Generationen ein Textilfaserunternehmen führte. Schon sein Vater hatte in den 1920er Jahren begonnen Glas zu sammeln – und diese Leidenschaft offenbar an seinen Sohn weitergegeben. Seine eigene Freude daran beschrieb Ernesto Wolf im Jahr 1987 selbst mit folgenden Worten:

Schon von jungen Jahren an war ich allen schönen Dingen zugetan und ließ mich von ihnen zur Begeisterung hinreißen. Ob es damals um Poesie, Literatur oder bildende Künste ging, spielte anfangs keine Rolle. […] Schließlich wurde die ästhetische Komponente eines Objekts, die Kraft seiner künstlerischen Aussage, zum eigentlichen Anstoß für eine Sammeltätigkeit, die mich seither mit ständiger Freude erfüllt.“ (Vorwort im Sammlungskatalog, S. 5)

Im Jahr 1932 zog die Familie Wolf in die Schweiz, vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Herrschaft erfolgte im Jahr 1938 die Auswanderung nach Buenos Aires (Argentinien). Emigration und Krieg unterbrachen die Sammeltätigkeit. Erst nach 1945, so Wolf, habe er mit seinem Vater wieder „an die Fortführung des Glassammelns denken können“.

Von Argentinien zog es Wolf nach Brasilien, dort lernte er seine spätere Ehefrau Liuba kennen, eine renommierte Bildhauerin. Gemeinsam mit ihr baute er seine Privatsammlung mit großer Hingabe weiter aus und avancierte zu einem bedeutenden Kunstmäzen. Wolf war Mitbegründer des Museums für moderne Kunst São Paolo und der Biennale von São Paolo, nach Venedig die zweitwichtigste Kunstbiennale der Welt.

Doch zurück zum Kännchenpaar: Wann gelangte es in Wolfs Besitz und woher wissen wir, dass Maximilian von Goldschmidt-Rothschild es einst besaß?

„Collection Max Goldschmidt“

Maximilian von Goldschmidt-Rothschild, Foto: Beth Hatefutsoth Photo Archive, Public domain, via Wikimedia.

Die Herkunft des Kännchenpaars ist unter dem Boden eines der Kännchen auf einem alten Etikett dokumentiert: „COLLECTION MAX GOLDSCHMIDT“ heißt es darauf. Gemeint ist damit die Sammlung des renommierten Frankfurter Kunstsammlers und Mäzens Maximilian von Goldschmidt-Rothschild.

Bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts war Maximilian von Goldschmidt-Rothschild international als ausgewiesener Kunstkenner bekannt. Er begann in den 1870er Jahren mit dem Aufbau seiner privaten Sammlung, die bis zum Jahr 1938 über 1.500 Objekte aus den Bereichen Kunsthandwerk und Malerei umfasste.

Er war Förderer verschiedener Frankfurter Kultureinrichtungen, wie etwa des Kunstgewerbemuseums (heute Museum Angewandte Kunst), des Städel Museums und des Frankfurter Kunstvereins.

Verkauf der Kunstsammlung unter dem Druck der NS-Verfolgung

Im Nationalsozialismus wurde Maximilian von Goldschmidt-Rothschild als Jude verfolgt. Unter dem Druck der Verfolgung veräußerte er seine gesamte Kunstsammlung am 11. November 1938 an die Stadt Frankfurt am Main – unmittelbar nach den Pogromen vom 9./10. November. Zum Zeitpunkt des Verkaufs galt seine Sammlung als eine der größten und wertvollsten deutschen Privatsammlungen. [2]

Historische Inventarkarte „Zwei Glaskannen“ (Inv.Nr. „G.-R. 76 a, b“), Bildarchiv Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main.

Im Jahr 1939 überwies die Stadt Frankfurt am Main die kunsthandwerklichen Objekte dem Museum für Kunsthandwerk, darunter auch das blaue Kännchenpaar. Eine historische Inventarkarte mit Fotografien zu den Objekten ist bis heute im Museum Angewandte Kunst erhalten und bestätigt die Herkunft des Kännchenpaars.

Historische Fotografie der Glaskanne „G.-R. Nr. 76 b“, Bildarchiv Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main.

Historische Fotografie der Glaskanne „G.-R. Nr. 76 a“, Bildarchiv Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main.

 

Maximilian von Goldschmidt-Rothschild starb 96-jährig, am 15. März 1940 in Frankfurt am Main. Bis zu seinem Tod lebte er in einem kleinen Bereich seines ebenfalls an die Stadt veräußerten Palais, das er gegen eine jährliche Miete bewohnen durfte. Allein dieser Umstand lässt erahnen, wie sorgenvoll und demütigend seine letzten Lebensjahre gewesen sein müssen. Durch seinen Tod entging er den ab 1941 einsetzenden Deportationen von Jüdinnen und Juden in die Konzentrationslager. Seine vier Kinder, Albert, Rudolf, Lucy und Erich waren im Jahr 1939 ins Ausland geflohen. Seine Ehefrau Minka war bereits im Jahr 1903 verstorben.

Rückgabe und Verkauf

Nach 1945 stellten die Erben nach Maximilian von Goldschmidt-Rothschild einen Antrag auf Restitution der Kunstsammlung. Infolgedessen wurde das Kännchenpaar im Februar 1949 gemeinsam mit einem Großteil der Sammlung den Erben zurückgegeben. Dies wurde anhand einer 27-seitigen Liste dokumentiert, die heute noch überliefert ist. Dort sind unter den laufenden Nummern 12 und 13 die zwei Glaskännchen mit den Signaturen „76 a“ und „76 b“ aufgeführt.

Wann und wie die Objekte nach der Rückgabe an die Erben in den Besitz von Ernesto Wolf gelangten ist noch unklar. Jedoch ist davon auszugehen, dass Wolf sie über den US-amerikanischen Kunstmarkt erwarb. Dort wurden einige Objekte aus der Sammlung Goldschmidt-Rothschild sukzessive im Auftrag der Erben versteigert. Möglicherweise halfen Wolf beim Erwerb auch seine guten Kontakte zum Kunstmarkt, auch darüber schrieb er im Jahr 1987:

Durch meine persönliche Freundschaft mit den wichtigsten Kunsthändlern dieses Gebietes […] hatte ich oft die Gelegenheit, Objekte, welche in den Jahren nach dem Krieg auf den Markt kamen, als erster zu sehen und nach Maßgabe meiner Möglichkeiten die schönsten davon zu erwerben.“ (Vorwort im Sammlungskatalog, S. 5)

Zwei Sammlungen, eine Leidenschaft

Ernesto Wolf und Maximilian von Goldschmidt-Rothschild sind sich sicherlich nie begegnet. Sie stammen aus unterschiedlichen Generationen – als Ernesto Wolf 1918 geboren wurde, war Maximilian von Goldschmidt-Rothschild über 70-jährig und verfügte bereits über seine renommierte Privatsammlung. Dennoch vereint beide eine mit großer Hingabe gelebte Leidenschaft: Die Schönheit und Einzigartigkeit des blauen Kännchenpaars haben beide Sammler sicherlich gleichermaßen bewundert.

Die zwei Glaskännchen aus dem LMW sind damit ebenso ein Beispiel herausragender Glaskunst aus dem 16. Jahrhundert wie auch ein „Erinnerungsstück“ an zwei hochkarätige Kunstsammler, deren Leben ab 1933 gezeichnet war durch die nationalsozialistische Verfolgung von Jüdinnen und Juden.

Dem Sammler Maximilian von Goldschmidt-Rothschild und seiner einstigen Kunstsammlung widmet das Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main vom 28. Januar bis 4. Juni 2023 eine Ausstellung.

Der Blogbeitrag wurde verfasst im Rahmen eines vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste (DZK) geförderten Forschungsprojekts zur Untersuchung der kunsthandwerklichen Erwerbungen des LMW auf NS-Raubgut.

 

 

[1] Alle Informationen zum Objekt sowie die Zitate von Ernesto Wolf sind dem Sammlungskatalog entnommen: Brigitte Klesse/Hans Mayr, Veredelte Gläser und Renaissance und Barock. Sammlung Ernesto Wolf, Wien 1987, darin die Gläser unter der Katalognr. 27.

[2] Zum Sammler und seiner Kunstsammlung vgl. den Beitrag von Katharina Weiler, Die Kunstobjekte Maximilian von Goldschmidt-Rothschilds – Biographie einer Sammlung im Spiegel der Geschichte des Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main, in: Gesammelt, gehandelt, geraubt. Kunst in Frankfurt und der Region zwischen 1933 und 1945, Frankfurt a. M. 2019, S. 139-153. – Dr. Katharina Weiler ist Kuratorin und Provenienzforscherin am Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main.

2 Kommentare zu “Zwei Sammler, eine Leidenschaft – zur Geschichte eines einzigartigen Kännchenpaars”

  1. Liebe Malena,

    vielen Dank für diese interessante Recherche. Ich kenne die Glasssammlung des LMW eigentlich sehr gut. Aber diese beiden außergewöhnlichen Kännchen sind mir tatsächlich noch nie aufgefallen. Man sieht eben nur, was man weiß. Deine Recherche zur Herkunft des Kännchenpaars ist sehr interessant. Ich lese gerade „The House of Fragile Things – Jewish Art Collectors and the Fall of France“ von James McAuley über jüdische Sammlerfamilien in Paris. Dabei ist mir auch die Familie Wolf eingefallen mit ihrer Sammelleidenschaft – vor allem für Glas.
    Schön, dass ich jetzt wieder etwas Neues erfahren habe … Danke.

    Viele Grüße, Andrea Welz

    1. Liebe Andrea,

      vielen Dank für deinen netten Kommentar. Ich freue mich sehr darüber!

      Ich konnte bei dieser Recherche erfreulicherweise auf Vorarbeiten von Kolleg*innen zurückgreifen – und war selbst überrascht. Als ich aufgrund der Provenienz „von Goldschmidt-Rothschild“ dann Kontakt mit der Provenienzforscherin des Museums Angewandte Kunst in Frankfurt am Main aufnahm, sandte diese mir umgehend und dankenswerterweise die historischen Inventarkarten und Fotografien zu. So gewinnt man mit der Zeit mehr und mehr Kenntnisse über die Herkunft der Objekte… immer kommt Neues dazu! In diesem Sinne: vielen Dank für deinen Buchtipp!

      Viele Grüße zurück,
      Malena

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