Schicksalsjahrhunderte eines Altaraufsatzes

Der Lichtensterner Altar vor seiner Zeit als Museumsobjekt

Auf dem linken Standflügel des Altaraufsatzes aus dem Zisterzienserinnenkloster Lichtenstern, kniet zu Füßen des Hl. Hieronymus eine weibliche Gestalt: Äbtissin Margarete von Stein (im Amt 1444–1469), die Stifterin des monumentalen Flügelretabels. Was könnte die kleine Figur uns nicht alles über das von ihr in Auftrag gegebene Altarretabel und über ihre Erlebnisse während der circa 550 Jahre auf ihrem Beobachterposten erzählen?

Der linke Standflügel mit der Darstellung Margarete von Steins wird 2018 in der Restaurierungswerkstatt gereinigt.

Sie würde vielleicht zunächst von ihrer mit der Stiftung des Altaraufsatzes verbundenen Hoffnung auf eine Verkürzung der Zeit im Fegefeuer berichten. Die Aussicht auf eine Verringerung des Leidens in der Phase zwischen Tod und Jüngstem Gericht war eine wichtige Motivation, ein solch kostspieliges Werk in Auftrag zu geben. Vermutlich würde Margarete von Stein aber – zumindest auf Nachfrage – auch eingestehen, dass sie den Altaraufsatz darüber hinaus als Investition sah, um sich durch ihre Darstellung auf dem Standflügel samt Familienwappen auf Erden dauerhaft präsent zu halten.

Zumindest die irdische Erinnerung ist Margarete von Stein, mutmaßlich nach mehreren Jahrhunderten ohne Aufmerksamkeit, seit der intensiven Beschäftigung eines Teams aus Kunsthistoriker*innen, Restaurator*innen und Kulturvermittler*innen mit dem Lichtenstern Altarretabel wieder sicher. Dass sie und das von ihr gestiftete Werk im 21. Jahrhundert durch eine aufwändige Restaurierung sowie eine Virtual-Reality-Zeitreise in den Fokus gerückt werden können, grenzt an ein Wunder. Denn die Geschichte des Altaraufsatzes und seines Aufstellungsortes in den über fünf Jahrhunderten seit Margaretes Stiftung ist äußerst wechselvoll.

 

Schreckmomente für die Stifterinnenfigur

Bildmontage mit dem Altaraufsatz am ursprünglichen Standort in der Kirche des ehemaligen Zisterzienserinnenklosters Lichtenstern.

Der erste Schicksalsschlag, über den wir durch Schriftquellen informiert sind, war die Plünderung des Klosters während des sogenannten Bauernkrieges, einer Reihe von Aufständen aus ökonomischen, gesellschaftlichen und religiösen Gründen. Während sich die Nonnen im April 1525 in ihren Pfleghof in Heilbronn geflüchtet hatten, entgingen Kloster und Ausstattung nur knapp der Zerstörung, weil ein von den Aufständischen gelegter Brand glücklicherweise von selbst erlosch.

Ein in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts reparierter massiver Schaden am Sockel des Altaraufsatzes, der sogenannten Predella, scheint im Zusammenhang mit der Plünderung zu stehen. In der Predella wurde kostbares liturgisches Gerät – also für den Gottesdient genutzte Utensilien – sowie Reliquiare aus Edelmetallen aufbewahrt, sodass die Beschädigungen bei einer gewaltsamen Öffnung der Predellentüren durch die Aufständischen entstanden sein könnten.

 

Die linke Flügeltüre der Predella, während der Restaurierung zeitweise herausgenommen, musste um 1525 durch ein neues Brett ersetzt werden.

Kamen die Nonnen 1525 noch einigermaßen glimpflich davon, wurde die Existenz des Klosters schon knapp 10 Jahre später mit der Einführung der Reformation in Württemberg ab 1534 grundsätzlich in Frage gestellt. Endgültig aufgelöst wurde das Zisterzienserinnenkloster nach über 300jährigem Bestand 1554 von Herzog Christoph (reg. 1550–1568). In Lichtenstern wurde ein Klosteroberamt eingerichtet, das die Liegenschaften und Pfründe des ehemaligen Klosters verwaltete. Margarete von Steins mit der Altarstiftung verbundene Hoffnung auf ewiges Gebetsgedenken durch die Gemeinschaft der Nonnen war damit Geschichte.

 

Im Dornröschenschlaf?

Ansicht der ehemaligen Klostergebäude in Lichtenstern, 1795, Radierung von Carl Urban Keller.

Über das Schicksal des Lichtensterner Altaraufsatzes in den folgenden Jahrhunderten ist kaum etwas bekannt, außer dass das Werk glücklicherweise erhalten blieb. Es muss die meiste Zeit mit geschlossenen Flügeltüren aufgestellt gewesen sein: die Malerei auf den Flügelaußenseiten und den Standflügeln weist starke Schäden auf, während Schreinskulpturen und Flügelinnenseiten vergleichsweise gut erhalten sind.

 

Klosteramtmann Pistorius dokumentiert u. a. die Form des einst über Margarete von Stein angebrachten Schriftbandes, kann aber die Buchstaben schon nicht mehr entziffern; Landesbibliothek Württemberg, Ms. hist. F. 91.

 

 

 

 

1768, also etwa 300 Jahre nach der feierlichen Errichtung des Hochaltarretabels und über 200 Jahre nach der Auflösung des Klosters, widmete sich der Klosteramtmann Ferdinand Wilhelm Pistorius (1712–1771) bei seiner Bestandsaufnahme der „Alte[n] rudera“ (= Trümmer) in den ehemaligen Klostergebäuden auch dem Lichtensterner Altarretabel. In seinen Notizen zum „altar“ – das früheste bekannte Schriftzeugnis zum Objekt – schwingt Unverständnis für das katholisch geprägte Bildprogramm mit. Gleichzeitig enthalten sie wichtige Informationen, insbesondere zum heute verlorenen Gesprenge, dem Aufsatz über dem Schrein. Pistorius scheint dem Altaraufsatz zumindest eine kulturhistorische Bedeutung zugemessen zu haben: Er wollte das Werk durch einen Maler dokumentieren lassen, konnte dieses Vorhaben aber leider nicht umsetzen.

 

 

Wiederentdeckung als Kunstwerk

Es dauerte dann nochmals knapp 100 Jahre, bis dem Altarretabel intensivere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Zu überdauern hatte es dabei die Auflösung des Klosteroberamtes 1807 im Zuge der Neuordnung der württembergischen Verwaltung. Die ehemalige Klosteranlage stand fortan leer und verfiel zunehmend.

1834 bot Württemberg das Anwesen zum Verkauf und Abbruch an. Letzteres konnte verhindert werden, indem der Pädagoge Carl August Zeller (1774–1846) das Areal kaufte, um dort ein Kinderheim und etwas später zusätzlich eine „Armenschullehrer-Bildungsanstalt“ einzurichten.

Der Lichtensterner Altaraufsatz wird in den 1840er Jahren, im Zuge eines zunehmenden Interesses an der mittelalterlichen Kunst der eigenen Region, erstmals als bemerkenswertes Kunstwerk in der Fachliteratur erwähnt. Und auch der württembergische Landeskonservator und Kunstsammler Konrad Dietrich Haßler (1803–1873) wurde auf das Werk aufmerksam und erwarb es 1858 von der Stiftungspflege der aufgelösten Pfarrei Lichtenstern. Das Altarretabel wurde nach Ulm transportiert und nach damaligen Standards restauriert. Fünf Jahre später wurde es dann Teil der 1862 gegründeten „Königlichen Staatssammlung vaterländischer Kunst- und Alterthumsdenkmale“, der Vorgänger-Institution des heutigen Landesmuseums Württemberg.

Von ihren vielfältigen Erlebnissen in den seitdem vergangenen über 150 Jahren könnte Margarete von Stein ebenfalls Spannendes berichten – doch das ist eine andere Geschichte….

Der Lichtensterner Altaraufsatz während der Restaurierung – Stifterin Margarete von Stein ist links im Bild platziert.

 

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