Music was my first love and it will be my last, John Miles 1976
Zwischen großen Dauerausstellungen und schönen Schmuckstücken mag das folgende Objekt ein wenig unscheinbar erscheinen, dennoch bietet es eine schöne Hintergrundgeschichte – und eine Idee, was „Alltagskultur“ in der Sammlung bedeutet.
„Das Objekt“ besteht aus einer Kompaktkassettensammlung aus den 1970er und 80er Jahren, die dem Museum der Alltagskultur von Torsten Liermann aus Laupheim überlassen wurde. Menschen nutzen eine solche Sammlung als Alltagspraxis des Musikhörens und gleichzeitig als Zeitspeicher und Zeitzeuge sowohl von alten und schönen Liedern, mit denen sie viel verbinden, als auch als Dekoration und Inneneinrichtung in ihren Wohnungen.
Die ersten Kassetten aus der Sammlung Liermanns stammen noch aus den frühen 1970er Jahren, als er gemeinsam mit seiner Schwester vor dem Fernseher saß und einzelne Songs aus Musikshows wie der ZDF Hitparade oder der Ilja Richter Show aufzeichnete. Die ganze Familie sollte dann mucksmäuschenstill sein, um ja keine Störgeräusche zu produzieren. Einige der ersten Lieder auf den Kassetten waren unter anderem El Condor Pasa von Simon & Garfunkel oder Wandrin‘ Star von Lee Marvin.
Musik als Konstante im Leben
Schon von Kindesbeinen an war dieses Leben also auf das Sammeln und das Hören von Musik ausgerichtet, wie Torsten Liermann auch in einem Interview noch einmal deutlich betonte. Im Laufe des nächsten Jahrzehnts, vor allem während der Schul- und Studienzeit, wuchs die Kassettensammlung auf über 200 an und begleitete ihn während verschiedener Umzüge für das Studium, beispielsweise auch nach Norwegen oder nach China. Auf der Rückreise von dort mit der Transsibirischen Eisenbahn wurden Liermann einige bespielte Kassetten amerikanischer Bands von russischen Grenzschutzbeamten entzogen – ob aufgrund der Musik darauf oder privatem Interesse der Beamten an den Kassetten bleibt nur zu vermuten. Während des Auslandsaufenthaltes in Norwegen bat er sogar seine Familie per Brief, ihm extra Lieder aus dem deutschen Radio aufzunehmen und die Kassetten zu schicken. Das Aufnehmen der Lieder auf Kassette war zur damaligen Zeit die wohl kostengünstigste Art eine Musiksammlung aufzubauen. Schallplatten kosteten ein Vielfaches im Vergleich zu den leeren Kassetten.
Passion in Kassettenform
Liermanns Sammlung besticht nicht nur durch ihren Umfang und die Sorgfalt, mit der er sie vervollständigte und pflegte, sondern auch die Passion zum Hören von Musik, die darin zu erkennen ist. Er beschrieb, dass er die Kassetten gerne in chronologischer Reihenfolge von Anfang bis Ende höre und nebenbei in seinen selbstgeschriebenen Notizbüchern die Titel verfolgt – in jeder Lebenslage, als Jugendlicher vor allem aber beim Lernen, ganz zum Unmut der Mutter. Die Bücher helfen auch dabei zu wissen, welche Kassette als nächstes eingelegt werden muss. Die Kassettenhüllen sind teilweise mit abfotografierten Covern von Schallplatten bestückt und die Rückseiten auch mit den Liedtiteln handbeschriftet. Musik hören und Musik sammeln ist also ein bedeutender Bestandteil des Alltags geworden.
Die Kassetten in unserer Sammlung
Was bewog das Museum also dazu, die Schenkung von Herrn Liermann in die Sammlung aufzunehmen?
Das Museum der Alltagskultur, früher und heute, bildet ganz alltägliche Praktiken ab, die für uns alle banal scheinen mögen, von außen betrachtet aber zur Reflektion über das eigene Leben anregen. Viele Menschen hören gerne Musik und besitzen heute vorwiegend eine digitale Sammlung auf diversen Streamingplattformen. Diese Kassettensammlung jedoch spiegelt eine frühere und sehr intensive Art des Musiksammelns wider – mit viel Energie, stundenlanger Arbeit und großer Passion.
Neben diesem Beitrag ist die Sammlung ab sofort auch in der Vitrine für Neuzugänge im Erdgeschoss des Museums der Alltagskultur in Waldenbuch zu sehen.
Zudem möchte ich mich sehr herzlich bei Torsten Liermann bedanken, der mir in langer Arbeit Bilder und schöne Geschichten zu den Kassetten und den Aufnahmen hat zukommen lassen!