Wie Kunsthistorikerinnen zeitreisen

Als Kunsthistorikerin mit Mittelalter-Schwerpunkt begebe ich mich häufig auf Zeitreise, besteht doch ein zentraler Bestandteil meiner Tätigkeit darin, mehr über die vielfältigen Geschichten unserer Objekte, insbesondere in ihrer Entstehungszeit, herauszufinden. Als besonders bereichernd empfinde ich dabei, mich einem Objekt ganz intensiv zu widmen und über dessen Einbettung in seinen ursprünglichen Kontext kunst- und kulturhistorische Zusammenhänge transparent werden zu lassen. Unser Lichtenstern-Projekt bietet diese schöne Gelegenheit.

Wissen und Wissensdurst

Das um 1465/70 entstandene Lichtensterner Retabel diente einst als Hochaltarretabel des Zisterzienserinnenklosters Lichtenstern.

Spätmittelalterliche Maßarbeit – Altar und Retabel in Lichtenstern

Maßarbeit – Altarblock und Flügelretabel in Lichtenstern (Rekonstruktion)
©Landesmuseum Württemberg, Foto: Wolff-Hartwig Lipinski, CC BY-SA

Es markiert den bedeutsamen Auftakt einer Produktion qualitätsvoller Altarretabel in Niederschwaben bzw. Württembergisch Franken und muss in potenten, innovativen Werkstätten angefertigt worden sein. Seine aufwändige künstlerische Gestaltung und das durchdachte, auf den Aufstellungsort zugeschnittene Bildprogramm zeugen vom hohen Anspruch der Stifterin, Äbtissin Margarete von Stein. Dank früherer Forschungen wissen wir also bereits einiges über dieses Altarretabel. Zu verschiedensten Aspekten – Künstler, Bildprogramm, Nutzung etc. – würde meine kunsthistorische Spürnase jedoch gerne mehr herausfinden:
Lässt sich die Werkstatt durch Vergleichsstücke oder Schriftquellen lokalisieren? Welche Vorbilder verarbeitete der Maler für die um 1465/70 ungewöhnlichen Landschaftsausblicke?

Beweinung Christi mit weitem Landschaftsausblick

Beweinung Christi mit weitem Landschaftsausblick
©Landesmuseum Württemberg, Foto: Kerstin Stark, CC BY-SA, CC BY-SA

 

Was hat es mit der Öffnungsmöglichkeit der Predella und den zwei (!) gemalten Ursula-Schiffen auf deren Innenseiten auf sich? Welche Inspirationsquellen liegen dem Bildprogramm mit seinem Fokus auf den Freuden und Schmerzen Mariens zugrunde? Wie wurden die Bilder des Altarretabels von den verschiedenen Betrachtern rezipiert? Diente beispielsweise das aufwühlende Bild der Schmerzensmutter als Ausgangspunkt persönlicher Andacht? Fragen über Fragen…

Datenbank, Bildakte und Bücherstapel

Meine kunsthistorischen Recherchen beginnen in der Regel – außer mit der genauen Betrachtung des Originales und dem Abgleich mit dem eigenen (Bild)gedächtnis – mit dem Zusammentragen dessen, was bereits über das Werk zu Papier gebracht wurde. Mein erster Anlaufpunkt ist unsere Datenbank IMDAS, in der wir sukzessive unsere Objekte erfassen. Dort finden sich neben Basisangaben zu Größe, Material und zur bisherigen kunsthistorischen Einordnung im Idealfall auch eine Beschreibung, Notizen zum Bildprogramm, zur Provenienz, zum Zustand und Literaturangaben.

Datenbank-Eintrag zu WLM 261

Datenbank-Eintrag zu WLM 261
©Landesmuseum Württemberg, Foto: Ingrid-Sibylle Hoffmann, CC BY-SA

Doch zugegebenermaßen sind wir (noch) nicht ausschließlich digital unterwegs und so konsultiere ich stets auch das alte analoge Inventarblatt und die sogenannte Objektakte, die meist eine wilde Mischung aus Fotos, Korrespondenz und Notizen früherer Bearbeiter birgt.
Als nächster Schritt steht die Auswertung des bereits zum Objekt und seinem Umkreis Veröffentlichten an. Es heißt also Bücher schleppen und die mehr als 30 Einträge zum Objekt sichten. Dabei können für uns Kunsthistoriker*innen auch sehr alte Publikationen von Interesse sein, etwa im Fall von Lichtenstern eine Veröffentlichung des Vorbesitzers Konrad Haßler aus dem Jahr 1863.
Die in der Literatur genannten Vergleichsstücke oder Hinweise zum Kontext des Retabels lösen ebenso wie die eigenen Beobachtungen am Objekt weitere Recherchen aus. Und wieder heißt es das Internet durchforsten, Bücher schleppen, lesen, vergleichen und dabei natürlich immer Augen und Hirn anschalten… Teils löst sich eine Fährte auf oder aber es ergeben sich spannende neue Verbindungsstränge und langsam entsteht ein immer dichteres Netz von Fakten zum Objekt und seinem Umfeld.

Auslauf für Kunsthistorikerinnen

Anhand von Büchern lassen sich (glücklicherweise) nicht alle Fragen klären und so gibt es auch Gelegenheit zum Tapetenwechsel. Hausintern ist der Austausch mit den Restaurator*innen vor dem Original wesentlicher Bestandteil der Bearbeitung – die Expertise der Kolleg*innen ist unabdingbar für die Rekonstruktion des ursprünglichen Aussehens und u. a. auch für die Klärung von Zuschreibungsfragen relevant.
Eine ihrer Entdeckungen – die Korrespondenz eines Brokatmusters am Schrein des Lichtensterner Altares mit dem Muster eines in der Staatsgalerie Stuttgart bewahrten Tafelbildes – führte uns gemeinsam ins Depot der Schwesterinstitution.

Ortstermin im Depot der Staatsgalerie Stuttgart

Ortstermin im Depot der Staatsgalerie Stuttgart
©Landesmuseum Württemberg, Foto: Kerstin Stark, CC BY-SA

Und tatsächlich ergab der Abgleich am Original einen Treffer! Beide Muster stimmen überein, es könnte also dieselbe Schablone Verwendung gefunden haben. Und dies am Werk der Staatsgalerie nicht nur für den gravierten Goldgrund, sondern auch für einen malerisch gestalteten Stoff. Jetzt wird es knifflig: Die Tafel in der Staatsgalerie ist etwa zeitgleich mit dem Lichtensterner Altar entstanden, ihre Malweise unterscheidet sich allerdings in wesentlichen Details wie Gesichtstypen und Modellierung. Welche Verbindung könnten zwischen den beiden Werken bestehen? Eine Entdeckung also, die zunächst weitere Rätsel aufgibt. Vielleicht bringt uns die Untersuchung des Hochaltarretabels in Churwalden (Schweiz) weiter, an dem möglicherweise dieselbe Schablone verwendet wurde?
Archivrecherchen gehören ebenfalls zum Repertoire, so etwa im Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Dort ist unter anderem eine vergleichsweise ausführliche Beschreibung des Lichtensterner Altares aus dem Jahr 1768 einzusehen. Aus dieser geht hervor, dass das Retabel zu diesem Zeitpunkt noch über ein Gesprenge, einen geschnitzten Aufsatz oberhalb des Schreines verfügte, der die Kreuzigung Christi zeigte. Für die Rekonstruktion seines früheren Aussehens ein entscheidender Hinweis!
Auch in der ehemaligen Klosterkirche in Lichtenstern, heute Teil der Evangelischen Stiftung Lichtenstern, haben wir uns umgesehen, um eine präzisere Vorstellung von der Wirkung des Altarretabels am Ort seiner Bestimmung zu erhalten. Das Retabel passt haargenau auf den Altarblock und füllte den Chorraum nahezu vollständig aus – spätmittelalterliche Maßarbeit!
Wohin uns unsere kunsthistorischen Zeitreisen noch führen werden? Ich halte Euch auf dem Laufenden.

1 Kommentar zu “Wie Kunsthistorikerinnen zeitreisen”

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.