In den ersten Wochen seit der Eröffnung der neuen Virtual-Reality-Stationen in der Schausammlung „LegendäreMeisterWerke“ sind bereits über 2.400 Besucher*innen mit dem 360°-Film „Heilige und Halunken. Eine VR-Reise ins Mittelalter“ ins Spätmittelalter eingetaucht. Sie verfolgen hautnah eine zwölfminütige fiktive Kriminalgeschichte, die sich kurz vor der Errichtung des monumentalen Altaraufsatzes in Kloster Lichtenstern ereignet. Ein Reliquienraub bringt Margarete von Stein, Äbtissin des Klosters und Stifterin des Werkes, aus der Fassung. Wird der dreiste Dieb rechtzeitig vor der Fertigstellung des Altarretabels gefasst? Können Malermeister Lienhard und seine Mitarbeiter zur Lösung des Falles beitragen? Und welche Rolle spielt die Heilige Ursula?
Verlauf und Ende des Kurzkrimis „Heilige und Halunken“ sollen hier nicht verraten werden. Vielmehr möchte ich berichten, welche Hintergründe uns zu der im Film erzählten Geschichte bewogen haben.
Die Grundüberlegung für unser Drehbuch war, den Besucher*innen einen kurzen Spielfilm mit emotional bewegender Handlung und keinen Dokumentarfilm zu präsentieren. Erzählweise und Bildsprache sollten sich an populären Spielfilmen oder Serien orientieren, die mit fiktiven, mittelalterlich angehauchten Welten viele Zuschauer in den Bann ziehen. Soweit der Plan, doch wie kommt man vom Altarretabel von Lichtenstern zu einer mitreißenden Geschichte?
Die angestrebte Form des Geschichtenerzählens – auch als „Storytelling“ bezeichnet –erforderte neben den fachlichen Überlegungen, eine gute Portion Kreativität, Gespür für Emotionen und Dramaturgie, und für mich als Kunsthistorikerin zugegebenermaßen auch den ein oder anderen „Sprung über den eigenen Schatten“. Glücklicherweise arbeiteten wir mit vereinten Kräften in einem interdisziplinären Team aus Kolleg*innen des Landesmuseums Württemberg und der Storz Medienfabrik am Drehbuch. So entwickelte sich aus laaaaaaaaangen Stichwortlisten mit Informationen, die wir Kunsthistorikerinnen und Kulturvermittlerinnen den Besucher*innen nahe bringen wollten, langsam ein Drehbuch.
Wir entschieden uns für drei Schauplätze: Kloster, Malerwerkstatt und Markt. In diese wollten wir verschiedenste Aspekte der spätmittelalterlichen Lebenswelt einbetten. In unseren Notizen finden sich Stichworte wie „vorherbestimmte Lebensläufe, Frömmigkeit, Stadt als Entwicklungsmotor, entstehende gesellschaftliche Unruhe, arbeitsteilige Fertigung eines Altaraufsatzes, hochspezialisierte Handwerker, Fernhandel, strenge Taktung des Klosterlebens, Klausur, Bildung für Frauen“.
Außerdem stand früh fest, dass Margarete von Stein als einzige historisch greifbare Person mit Bezug zum Altarretabel von Lichtenstern eine zentrale Rolle spielen sollte. Überdies wollte ich unbedingt die Menschen zeigen, die an dessen Entstehung mitwirkten. Wir kannten nun also die Schauplätze und die Hauptakteure, sogar mit Charaktereigenschaften und fiktivem Lebenslauf, eine packende Geschichte hatten wir jedoch immer noch nicht parat!
Nun hieß es möglichst frei von fachlichen Skrupeln und von der Angst vor Kitsch zu überlegen, welche möglichen Erzählstränge Orte und Figuren zusammenfügen könnten. Wie wäre es mit einem Liebesfilm nach dem Motto „verbotene Liebe im Kloster“? Springen wir auf die Krimiwelle auf und inszenieren einen rätselhaften Mord an Malermeister Lienhard? Oder erzählen wir doch lieber ein gefühlvolles Drama rund um Malerlehrling Michel und Novizin Agnes, ein in der Kindheit getrenntes Geschwisterpaar?
Letztlich machte die Geschichte um den Raub einer Reliquie das Rennen. Mit diesem Motiv lässt sich ein tatsächlich vorhandener und überdies noch rätselhafter Befund am Lichtensterner Altarretabel mit einer spannungsreichen Handlung verbinden.
Die mit der Restaurierung des Altarretabels befassten Kolleg*innen hatten bei ihren Untersuchungen der Predella, des untersten Bauteils des Altaraufsatzes, entdeckt, dass sich deren obere Hälfte mittels zweier schmalrechteckiger Flügel öffnen ließ. Bei geöffneter Predella präsentierten sich dem Betrachter auf den Predellenflügeln zwei Darstellungen der Heiligen Ursula samt Gefolge aus 11.000 Jungfrauen.
Dieses Motiv auf den Innenseiten der Flügel spricht dafür, dass in Kloster Lichtenstern Reliquien der Heiligen Ursula oder ihrer Begleiterinnen bewahrt und diese an ausgewählten Tagen im oberen Fach der Predella den Gläubigen präsentiert wurden. Gleichzeitig wirft die Art der Ausgestaltung der Predella noch viele Fragen auf: Unter anderem ist die horizontale Gliederung in zwei Stockwerke sehr ungewöhnlich, überdies sind die beiden vorhandenen Darstellungen der Ursula-Schiffe mit einem zeitlichen Abstand von circa 50 Jahren, um 1465 und um 1510/20, entstanden.
Während ich für die kunst- und kulturhistorische Einordnung des Lichtensterner Altarretabels weiter nach Vergleichsstücken und Quellen fahnde – für entsprechende Hinweise bin ich dankbar –, inspirierten uns diese offenen Fragen, unsere Geschichte rund um das Schicksal der geheimnisvollen Lichtensterner Ursula-Reliquie zu erzählen.
Eure eigene Neugier auf die Umstände des Reliquienraubs und die darin verwickelten „Heiligen und Halunken“ könnt ihr während der Öffnungszeiten des Landesmuseums an den VR-Stationen stillen. Viel Spaß dabei!
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