Als Provenienzforscherin am LMW untersuche ich die Herkunft der Objekte und stoße dabei immer wieder auf die Spuren früherer Besitzer*innen. Auch wenn damit noch lange nicht alle Fragen zur Objektgeschichte geklärt sind, finden sich dadurch neue Ansatzpunkte für weitere Recherchen.
Dies ist auch bei der Untersuchung eines Silberpokals der Fall, der im Jahr 1950 erworben wurde. Fest steht bislang: Er war einst im Besitz des jüdischen Sammlers Alfred Pringsheim – doch ob er das Objekt noch im Jahr 1933, zu Beginn der NS-Herrschaft, besaß, ist noch Gegenstand laufender Untersuchungen. Die Erforschung dieses Objekts erfolgte im Rahmen eines vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste (DZK) geförderten Projekts zur Untersuchung der Erwerbungen zwischen 1945 und 1955.
Hinweise zur Herkunft
Schon der aufwendige Eintrag im Inventarbuch zeigt, dass es sich bei diesem Pokal um ein hochwertiges Einzelstück mit Seltenheitswert handelt. Detailgetreu wurde das Objekt nach dem Erwerb abgezeichnet und beschrieben. Der etwa 55 cm hohe Silberpokal ist eine Arbeit des Nürnberger Goldschmieds Peter Wibers (Meister 1603, gest. 1641), die auf die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts datiert wird. Charakteristisch für den Pokal sind die vielen „Buckeln“, die an verschiedenen Stellen eingearbeitet sind, mal in ovaler, mal in runder Form. Den Deckel ziert eine Kriegerfigur mit Schild und Lanze. Der Pokal wurde am 21. Dezember 1950 beim Stuttgarter Kunst- und Antiquitätenhändler Otto Greiner (1888–1977) für 2.000 DM angekauft und zählt damit zu den hochpreisigeren Silbererwerbungen der Nachkriegszeit.
Erfreulicherweise fanden sich zum Objekt Hinweise in der Literatur: In Marc Rosenbergs „Goldschmiede Merkzeichen“ – ein Standardwerk für die Entschlüsselung von Silberstempel – findet sich unter der Nr. 4119 h) die Beschreibung eines von Wiber hergestellten Pokals, die auf das im Landesmuseum Württemberg verwahrte Stück passt:
Laut Rosenberg war der damalige Besitzer des Pokals „Prof. A. Pringsheim“ aus München, außerdem wurde das Stück im Jahr 1906 in Nürnberg ausgestellt und unter der Nr. 294 im Ausstellungskatalog beschrieben – und das sogar mit einer Abbildung. Der darauffolgende Abgleich des Objekts mit Beschreibung und Abbildung aus dem Ausstellungskatalog lässt kaum Zweifel, dass es sich um ein und dasselbe Stück handelt:
Im Nationalsozialismus als Jude verfolgt: Der Mathematiker und Kunstsammler Alfred Pringsheim
Schnell war klar, dass es sich bei „Prof. A. Pringsheim“ um den Mathematikprofessor Alfred Pringsheim (1850–1941) handelt – Münchens prominentester Sammler im Bereich historisches Kunsthandwerk zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Als Sohn des Industriellen Rudolf Pringsheim zählte er zu den wohlhabendsten Personen im Königreich Bayern. Besonders bekannt war seine Sammlung italienischer Majoliken, daneben besaß er aber auch „eine kaum weniger bedeutende Goldschmiede-Sammlung“[1]. Der Familie Pringsheim und ihrem kulturellen Wirken widmete das Jüdische Museum München im Jahr 2007 die Ausstellung „Nichts als Kultur – Die Pringsheims“[2].
Alfred Pringsheim wurde im Nationalsozialismus als Jude verfolgt. Bevor er mit seiner Ehefrau Hedwig im Oktober 1939 in die Schweiz floh, veräußerte er unter dem Druck der Verfolgung im Juni und Juli desselben Jahres seine herausragende Majolika-Sammlung in zwei Auktionen von Sotheby’s deutlich unter Wert, vom Erlös erhielt er nur einen Bruchteil. Bereits 1933 war das Ehepaar zum Verkauf ihrer Villa in der Arcisstraße gezwungen worden, die zum kulturellen Treffpunkt Münchens avanciert war. Dort übrigens, lernten sich der berühmte Schriftsteller Thomas Mann (1875–1955) und Pringsheims Tochter Katia (1883–1980) kennen – nach deren Heirat wurde Alfred Pringsheim später auch als Schwiegervater Manns bekannt.
Doch was geschah mit Pringsheims Goldschmiede-Sammlung? Pringsheims Silberobjekte wurden am 21. November 1938, kurz nach den Novemberpogromen, von der Gestapo beschlagnahmt und aus seiner Wohnung in der Widenmayerstr. 35/2 in ein Gebäude des Bayerischen Nationalmuseums (BNM) verbracht, dass die Gestapo als Kunstdepot nutzte. Im Jahr 1941 schließlich erwarb das BNM die knapp 100 Objekte umfassende Silbersammlung Alfred Pringsheim für 121.200,-. Im selben Jahr verstarb Alfred Pringsheim am25. Juni im Schweizer Exil.
Und der gesuchte Silberpokal?
Nach dem Ende der NS-Herrschaft übergab das BNM die Silbersammlung Pringsheims an den Central Collecting Point München – eine Sammelstelle für NS-Raubkunst, die von den amerikanischen Alliierten eingerichtet worden war. Die Gegenstände wurden im Collecting Point fotografiert und dokumentiert, dann den Erben nach Alfred Pringsheim zurückgegeben und im Jahr 1953 in die USA verbracht und im Auftrag der Erben versteigert.
In den Unterlagen des Central Collecting Points gab es keinen passenden Treffer zum gesuchten Pokal. Es wurden alle 97 Einträge zu Silberobjekten aus dem Besitz Pringsheim mit den „Münchner Nummern“ 36866 bis 36962 überprüft – der von Wibers hergestellte Pokal mit 55 cm Höhe und Kriegerfigur befand sich nicht darunter[3]. Die Vermutung liegt deshalb nahe, dass dieser Pokal nicht (mehr) in Pringsheims Besitz war, als seine Silbersammlung im Jahr 1938 beschlagnahmt wurde. Dennoch kann ein NS-verfolgungsbedingter Entzug nicht ausgeschlossen werden. Denkbar ist, dass Pringsheim selbst den Pokal unter dem Druck der Verfolgung und vor der Beschlagnahmung der Sammlung veräußert haben könnte. Da wir bislang keinen Beleg haben, bis wann er im Besitz des Pokals war, kann es aber auch sein, dass er sich noch vor dem Beginn der NS-Herrschaft aus ganz anderen Gründen von dem Stück trennte.
Auch wenn die Spur zu Alfred Pringsheim somit nicht automatisch alle Fragen beantwortet, bildet sie doch ein kleines Mosaiksteinchen bei der Rekonstruktion der Objektgeschichte. Nicht zuletzt aber bietet sie Anlass, die Erinnerung an den herausragenden Kunstsammler Alfred Pringsheim wach zu halten.
[1] Alle Infos zu Alfred Pringsheim und dem Verbleib seiner Sammlung aus: Lorenz Seelig, Die Münchner Sammlung Alfred Pringsheim – Versteigerung, Beschlagnahmung, Restitution, in: Entehrt. Ausgeplündert. Arisiert. Entrechtung und Enteignung der Juden, hg. von der Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste Magdeburg, Magdeburg 2005, S. 265-290, hier Zit. S. 267.
[2] Emily D. Bilski, „Nichts als Kultur“. Die Pringsheims. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Jüdischen Museums München vom 23. März bis 10. Juni 2007 (Sammelbilder, Bd. 2), München / Wolfratshausen 2007.
[3] Auch auf der Datenbank „Lost Art“, auf der verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter gemeldet werden, gab es keine Suchmeldung zu diesem Pokal.