Einen herausragenden Glücksmoment nach mehreren Jahren intensiver Vorbereitung durften wir Kolleg*innen aus der Restaurierung und der Kunst- und Kulturgeschichte pünktlich vor Weihnachten erleben: Der Lichtensterner Altaraufsatz konnte in die für das monumentale Objekt maßgeschneiderte Hightechvitrine eingebracht werden.
Der um 1465/70 entstandene prächtige Flügelaltar ist damit nach vielen Jahren hinter den Kulissen erstmals wieder für die Öffentlichkeit zugänglich. Er komplettiert den durch ein besonderes Zusammenspiel von Originalobjekt und digitaler Vermittlung geprägten Turmraum im 2. OG des Alten Schlosses. Auf diesen Tag haben wir seit knapp 5 Jahren hingearbeitet und in den letzten Wochen auch hingefiebert!
Zum Abschluss der intensiven Auseinandersetzung mit dem Lichtensterner Altaraufsatz möchten wir heute nochmals nähere Einblicke in die umfangreiche Restaurierung geben, die durch eine großzügige Förderung der Ernst von Siemens Kunststiftung ermöglicht wurde.
Behutsame Pflege statt großer Eingriffe
Ein Team von Fachrestaurator*innen des Landesmuseums hatte den Altaraufsatz aus dem Kloster Lichtenstern zunächst in seiner Substanz erforscht, denn Voraussetzung der Restaurierung war die detaillierte Kenntnis seines Erhaltungszustandes. Darauf aufbauend wurde ein Konservierungs- und Restaurierungskonzept erarbeitet, das den verschieden stark gealterten Zustand des Altaraufsatzes berücksichtigte.
Fragen über Fragen…
Handelt es sich tatsächlich um einen vollständigen, in Holz und Malerei original erhaltenen Altaraufsatz? Welche Bereiche sind dem ursprünglichen Zustand von 1465/70 zuzuordnen, welche nicht, welche Teile könnten fehlen? Wo wurden Vergoldung und Farbfassung verändert oder sogar entstellend überarbeitet? Weshalb unterscheiden sich die beiden querformatigen Türen der Predella nach Stil und Befund?
… und erste Antworten
Bedingungen wie ungünstige Lagerung und Kriegseinwirkung, aber auch geringere Wertschätzung des Kunstwerkes hatten zu Verlusten geführt: heute fehlen das sogenannte Gesprenge auf dem Schrein – das ist ein Architekturaufbau, der vermutlich weitere Skulpturen enthielt – außerdem die originalen Krönungsengel über der Maria, zwei schmale Säulen an den inneren Schreinwänden und zwei Türchen an der Rückseite der Predella, dem unteren Kasten.
Bei der Oberflächenuntersuchung mit leistungsstarkem Licht und Stereomikroskop zeigte sich die komplexe Aufbewahrungs- und Restaurierungsgeschichte des Altaraufsatzes. An den Standflügeln waren schon 1915 die kunstvoll gemalten, bereits im 18. Jh. nicht mehr intakten Spruchbänder der beiden Kirchenväter Gregor und Hieronymus entfernt worden. Vor allem an der Tafelmalerei lagen umfangreiche Altretuschen und Übermalungen vor. In geschlossenem Zustand des Aufsatzes hatten die Schrein- und Predellarückseite mit den Flügelaußenseiten durch große Schwankung von Luftfeuchte und Temperatur mehr als die Hälfte der ursprünglichen Farbfassung verloren, während die geschützten Innenseiten deutlich besser erhalten blieben.
… noch mehr Antworten – Der Blick in die Tiefe
Im zweiten Schritt kamen bildgebende Verfahren wie die UV-Fluoreszenz-, die Röntgenuntersuchung und die Infrarot-Reflektographie zum Einsatz. Im ultravioletten Licht ließen sich jüngere Überarbeitungen an Malerei und Firnisschicht abschätzen und Ansätze für Restaurierungsmaßnahmen festlegen. Auf der Suche nach verdeckten Öffnungen durchdrangen Röntgenstrahlen Malschicht und Holzsubstanz. Mit Hilfe des Infrarotlichtes ließ sich bis zur weißen Grundierung mit der schwarzen Entwurfszeichnung des Meisters blicken, sein Zeichenstil entdecken und so manche Abänderung seiner Komposition feststellen.
Seine auf helle Grundierung gesetzte schwarze Entwurfszeichnung überzog der Maler zuerst mit einer rosa-bräunlichen, halbtransparenten Lasur. Damit gewann er einen warmen Mittelton als Grundlage und konnte im Malprozess gleichzeitig seinen Entwurf im Blick behalten.
Die naturwissenschaftliche Bestimmung von Malpigmenten und Hilfsmaterialien in Zusammenarbeit mit der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart erlaubte detaillierten Einblick in mittelalterliche Werkprozesse. So enthielt die reiche, sehr leuchtkräftige Palette des Tafelmalers unter anderem Bleiweiß, Bleizinngelb, Zinnoberrot, Ocker, grünen Malachit, blauen Azurit, violetten Farblack und Pflanzenschwarz.
Bemerkenswert ist überdies die Bestätigung der bislang kunsthistorisch angesetzten Datierung um 1465 mit Hilfe dendrochronologischer Untersuchung und holzanatomischer Probenanalysen. Es wurden heimische Hölzer eingesetzt, so das geschmeidige Lindenholz des Bildhauers für alle Schnitzarbeiten im Schrein, Tannen- und Fichtenholz für tragende Teile und Rotbuche für die Holznägel.
Auf und Zu…
Die spannendste Wiederentdeckung bot die Predella, der Kasten unterhalb des Schreines: durch zwei ehemalige Öffnungen der Rückseite ließen sich im Inneren zwei mittelalterliche, mit der Legende der Hl. Ursula bemalte Tafeln erkennen. Diese querformatigen, seit einer zurückliegenden „Restaurierung“ nicht mehr als beweglich erkennbaren Elemente konnten als Predellatüren zurückgewonnen werden, mittelalterliche Scharnier- und Nagelspuren hatten die Restaurator*innen auf die richtige Spur geführt..
Hinter den Predellatüren hatten sich wertvolle Messgefäße und vielleicht auch Reliquien des Frauenklosters verborgen, Rußspuren an der Unterseite des Fachbodens deuten auf Kerzenbeleuchtung hin. Allerdings war die linke Tür – vielleicht bei einer Plünderung im sogenannten Bauernkrieg 1525 – wohl so beschädigt worden, dass für sie ein spätmittelalterlicher Ersatz notwendig wurde. Hier spricht der Stil der gemalten Darstellung der Hl. Ursula und ihrer Begleiterinnen auf der Innenseite für eine Entstehung um 1525.
In ausdauernder Detailarbeit…
…entstand die aufwendige Schadenskartierung, festigten die Restaurator*innen aufstehende Malschichten, entfernten gegilbte Überzüge, lösten zahlreiche Verschmutzungen und Übermalungen und führten schließlich die reversible (wieder lösliche) Schließung von Fehlstellen samt etlicher das Gesamtbild abrundenden Retuschen durch. Eine fotografische Dokumentation begleitete jeden Arbeitsschritt.
Während die fragmentierte Malerei der Außen- und Rückseiten durch Konservierung erhalten wurde, erlaubten es die sehr gut intakten Innenseiten, nahezu den mittelalterlichen Zustand wieder zu zeigen. Ziel war neben der notwendigen Konservierung von Holz und Malerei die gesteigerte Ablesbarkeit der leuchtenden Farbpalette des Meisters und eine Wiedererkennbarkeit der Funktion beider Türen auf der Vorderseite der Predella.
Und jetzt?
Seit heute, dem 17.12.2022, ist der Lichtensterner Altar in der Schausammlung LegendäreMeisterWerke zu sehen. Kommt vorbei und teilt unsere Begeisterung über die Ergebnisse der Restaurierung und über die Rückkehr dieses faszinierenden Objektes in die Öffentlichkeit!
Das ist ja wunderbar! Ich freue mich sehr, dass ein weiterer Altar aus der gr0ßartigen Sammlung des Landesmuseums (der ich immer noch etwas nachtrauere) den Weg aus dem Depot bzw. der Restaurierungswerkstatt in die Schausammlung gefunden hat. Ein Grund, bald mal wieder ins Museum zu kommen. Danke für den interessanten Blogbeitrag.
Hallo, habe mich sehr über den Bericht gefreut.
Da ich nicht lesen konnte, ob der Altar-Aufsatz aus Lichtenstern bei Löwenstein stammt, bitte ich um Auskunft. Ausserdem würde mich das Jahr bzw Datum interessieren, wann er aus der Kapelle in Lichtenstern zwecks Restauration entnommen worden ist. Vielleicht lässt sich dies noch herausfinden.
Vielen Dank für Ihre Beantwortung,
R. Vogt
Sehr geehrte Frau Vogt,
über Ihr Interesse am Lichtensterner Altaraufsatz freuen wir uns sehr. Das Altarretabel stammt – wie Sie richtig vermuten – aus dem ehemaligen Zisterzienserinnenkloster Lichtenstern bei Löwenstein.
Das Zisterzienserinnenkloster wurde im Zuge der Reformation 1554 aufgelöst, womit das Altarretabel seine ursprüngliche Funktion verlor. Es verblieb jedoch noch rund 300 Jahre vor Ort in der ehemaligen Klosterkirche. 1858 erwarb es dann der württembergische Landeskonservator und Kunstsammler Konrad Dietrich Haßler (1803–1873) von der Stiftungspflege der aufgelösten Pfarrei Lichtenstern. Das Altarretabel wurde nach Ulm transportiert und nach damaligen Standards restauriert. Fünf Jahre später wurde es dann Teil der 1862 gegründeten „Königlichen Staatssammlung vaterländischer Kunst- und Alterthumsdenkmale“, der Vorgänger-Institution des heutigen Landesmuseums Württemberg. In den folgenden über 150 Jahren wurden immer wieder Restaurierungen vorgenommen. Die jüngste umfangreiche Restaurierung erfolgte wie im Beitrag beschrieben im Vorfeld der Neuaufstellung in der Schausammlung.
Es gibt in diesem Blog des Landesmuseums Württemberg zahlreiche Beiträge zu diesem interessanten Objekt. Bei Interesse können Sie sich die Lichtenstern-Beiträge anzeigen lassen, indem Sie als Suchbegriff bei „LMW-Blog durchsuchen“ Lichtenstern eingeben oder auf den Begriff „Lichtenstern“ unter dem Blog-Beitrag klicken. Viel Spass beim Schmökern!
Herzliche Grüße Ingrid-Sibylle Hoffmann