Dass Museumsarbeit viele Facetten hat, ist bei weitem keine neue Erkenntnis. Wie viel Wahres in der Feststellung liegt, zeigt sich uns aktuell in dem liebevoll als „Lichtenstern“ abgekürzten Projekt – oder besser gesagt an den Projekten, die unter diesem Schlagwort laufen. Lichtenstern, klingt hübsch, worum geht es denn genau?
Alles dreht sich um den Lichtensterner Altar
Im Zentrum steht ein einziges Objekt, der monumentale Altaraufsatz (Retabel) aus dem Zisterzienserinnenkloster Lichtenstern: Mit insgesamt 2,7 Metern Höhe, 21 bildlichen Darstellungen sowie sieben Skulpturen ist sein Format beachtlich und die kunstfertige Gestaltung steht dem in nichts nach.
Das Altarretabel wurde um das Jahr 1465 von der Äbtissin, das heißt der Vorsteherin des Klosters, für die Kirche des Zisterzienserinnenklosters Lichtenstern in Löwenstein gestiftet. Seit rund 155 Jahren wird es in der Mittelaltersammlung bei uns im Haus bewahrt. Was aber macht den Altaraufsatz zwischen anderen hochkarätigen Werken als Forschungsgegenstand so interessant? Und welche neuen Erkenntnisse erhoffen wir uns durch die intensive Beschäftigung mit dem über 550 Jahre alten Objekt?
Teamarbeit großgeschrieben
Intensiv trifft es ziemlich gut, denn das Projekt ist breit angelegt: Beteiligt sind Kolleginnen und Kollegen aus den Bereichen Restaurierung, Kunstgeschichte, Projektsteuerung, Vermittlung, Kommunikation, Drittmittel und Digitalisierung – gelebte Teamarbeit. Außerdem arbeiten wir eng mit externen Kooperationspartnern zusammen. All das wird erst durch zusätzliche Unterstützung möglich: Die Ernst von Siemens Kunststiftung fördert im Rahmen des Bündnisses „Kunst auf Lager“ eine umfassende Restaurierungsmaßnahme. Das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst unterstützt im Rahmen der Förderlinie Digitale Wege ins Museum die Entwicklung digitaler Vermittlungsformen zum Altar, die wir zusammen mit der Storz Medienfabrik GmbH im Rahmen einer Public-private-Partnership entwickeln. Aber dazu später mehr.
Aus dem Depot, über die Restaurierung, in die Schausammlung
Wegen seines fragilen Zustands und früherer Restaurierungsarbeiten, die nicht konsequent zu Ende geführt wurden, konnte das Retabel seit Längerem nicht mehr ausgestellt werden. Bis zu seinem Transport in die Restaurierungswerkstätten war es deshalb im Depot verborgen. Dass sich das glücklicherweise ändert, verdanken wir der Förderlinie „Kunst auf Lager“. Vier Restauratorinnen und Restauratoren tragen in den kommenden zwei Jahren dazu bei, dieses bedeutende Kunstwerk für die Nachwelt zu bewahren. Nach der Restaurierung wird es in der Schausammlung LegendäreMeisterWerke im Alten Schloss endlich öffentlich zugänglich sein. Bis dahin sind viele Arbeitsschritte zu planen und durchzuführen: Neben konservatorischen Maßnahmen, die für die Erhaltung wichtig sind, muss ein zeitgemäßer Umgang mit früheren Retuschen und Kittungen gefunden werden.
Herausfordernd sind hierbei insbesondere Übermalungen an der Predella – dem Sockel des Retabels. Aussehen ist aber nicht alles. Parallel werden kunsttechnologische Untersuchungen durchgeführt, von denen wir uns Aufschluss über den Originalbestand, verwendete Pigmente und Techniken erhoffen.
Detektivarbeit Kunstgeschichte?!
Das Lichtensterner Altarretabel ist einer der frühesten überlieferten Flügelaltäre aus der Region Niederschwaben bzw. Württembergisch Franken des Spätmittelalters. An seinem monumentalen Format und der qualitätvollen Ausführung zeigt sich, dass es im 15. Jahrhundert im Gebiet des heutigen Württembergs auch außerhalb Ulms innovative Künstlerwerkstätten gab. Während die Ulmer Kunst des 15. Jahrhunderts vergleichsweise gut erforscht ist, gibt es zum künstlerischen Schaffen in Niederschwaben bzw. Württembergisch Franken noch viele offene Fragen. So lässt sich derzeit die Werkstatt, in der das Retabel gefertigt wurde, noch nicht sicher lokalisieren. Auch die Zuordnung der beteiligten Künstler – Maler und Bildhauer – zu weiteren Werken treibt die Kunsthistoriker um.
Dennoch gehört das Altarretabel zu den spätmittelalterlichen Objekten, zu deren Kontext und bewegten Geschichte sich vergleichsweise viele Informationen erhalten haben. So lässt sich neben dem ursprünglichen Aufstellungsort im Kloster Lichtenstern beispielsweise die Stifterin, die Äbtissin Margarete von Stein (†1469) nachweisen. Sie ließ sich sogar auf einem der Außenflügel darstellen. Auch ist bekannt, dass das kostbare Werk 1525 während des Bauernkrieges nur knapp der Zerstörung entging und auch nach Auflösung des Klosters im mittleren 16. Jahrhundert noch rund 200 Jahre vor Ort verblieb. Es gibt also neben dem eigentlichen Objekt, das kunsthistorisch und kunsttechnologisch erforscht wird, verschiedene Anknüpfungspunkte für die spannende Suche nach weiteren Puzzlesteinen in der Geschichte des Altarretabels von Lichtenstern.
Das LMW auf digitalen Wegen
Warum stellen wir mit dem Lichtensterner Altar gerade ein spätmittelalterliches Objekt, noch dazu aus einem religiösen Kontext in den Mittelpunkt digitaler Vermittlung? Diese Entscheidung haben wir bei der Vorbereitung für die Förderlinie „Digitale Wege ins Museum“ intensiv diskutiert und bewusst getroffen. Denn auch wenn wir, was wenig überraschen mag, alle „unsere“ Objekte in den Sammlungen spannend finden, haben ältere kulturhistorische Objekte auf den ersten Blick oftmals scheinbar wenig mit der aktuellen Lebenswelt zu tun. Das kann sie entrückt und heute wenig greifbar erscheinen lassen. Wie viele Anknüpfungspunkte entgegen dieser Annahme aber tatsächlich ins Hier und Jetzt führen, wird häufig übersehen. Multimediale Inszenierungen sind beispielsweise keine moderne Erfindung – schon im spätmittelalterlichen Kirchenraum waren liturgische Handlungen eng mit der künstlerischen Ausstattung verbunden und sprachen alle Sinne der Gläubigen an.
Auch der Weg ist ein Ziel
Wir möchten unsere Begeisterung für „Lichtenstern“ mit euch teilen und – der digitalen Technik sei Dank – virtuell erlebbar machen. Auf verschiedenen Wegen betreten wir dabei zumindest für uns Neuland. Das macht das Projekt für uns besonders reizvoll. Dazu gehört zunächst dieser Blog, in dem wir unter dem Schlagwort Lichtenstern über unser Vorgehen bei der Restaurierung, Erforschung und der Erarbeitung der Kulturvermittlung berichten. Schön ist, dass wir dadurch die Prozesse schrittweise medial begleiten können, während in Ausstellungen meist nur retrospektiv Texttafeln und Medienstationen über vorangegangene Maßnahmen an den Exponaten informieren. Weil das Projekt in all seinen Facetten vom Austausch lebt, meldet euch gerne mit Fragen und Anmerkungen.
Auf die Brille, fertig, los
Das zweite Format widmet sich dem 15. Jahrhundert näher, also der Zeit, in der das Altarretabel entstanden ist. Gemeinsam mit der Firma Storz bereiten wir eine Virtual Reality-Anwendung vor, die euch auf eine virtuelle Reise ins spätmittelalterliche Nordwürttemberg mitnimmt. Hier könnt ihr dann den Spuren des Altars folgen und dabei in die damalige Gesellschaft eintauchen. Im Moment planen wir das Setting der einzelnen Szenen, recherchieren viele Einzelheiten zu damaligen Lebensgewohnheiten, gesellschaftlichen Strukturen u.v.m. Wir werden hier berichten, wie es weiter geht. Auch wenn noch ein gutes Stück vor uns liegt, sind wir schon jetzt gespannt, wie das Ergebnis letztendlich aussehen wird und hoffen, dass ihr genauso viel Spaß daran habt, wie wir. Und ab Dezember heißt es dann bei uns in der Schausammlung: Auf die Brille, fertig und los!
1 Kommentar zu “Ein Objekt mit vielen Facetten”