Etwas völlig Neues wollte die Stadt Geislingen zu Weihnachten 1952 ausprobieren. In diesem Jahr sollte der Weihnachtsmann die Pferdekutsche stehen lassen und mit einem Hubschrauber in der Stadt landen. Der damalige Leiter der Landesstelle für Volkskunde, Helmut Dölker, war empört. In einem Protestbrief an den Geislinger Bürgermeister schrieb er: „Ich kann mir nicht denken, daß das Weihnachtsfest in so grobem Sinn materialistisch ausgeschlachtet werden sollte“.
Das Protestschreiben kam kürzlich in der Altregistratur der Landesstelle für Volkskunde zum Vorschein. Es verleitete wegen der unüblichen emotionalen Formulierungen geradewegs dazu, genauer hinzusehen, eingehender zu lesen und einzutauchen in die dahinter stehende Geschichte.
Protest gegen die „materialistische Ausschlachtung des Weihnachtsfestes“
Der damalige Landestellenleiter verurteilte den geplanten Hubschrauberflug des Weihnachtsmanns als „unglaubliche Geschmacksverirrung“. Er sorgte sich um die Auswirkungen eines solchen Vorhabens auf die „heranwachsende Jugend“. Außerdem sah er durch die Hubschrauber-Aktion die „ernste und treue Überlieferung“ der Weihnachtsbräuche gefährdet. Sein „flammender Protest“ wurde unter anderem vom Schwäbischen Heimatbund unterstützt. Am Ende beugte sich die Stadt den wortgewaltigen Einwänden Dölkers und seiner namhaften Mitstreiter: Wie die Jahre zuvor zog der Weihnachtsmann 1952 mit der Kutsche in der Stadt ein.
Wenn der Weihnachtsmann nicht fliegen darf, springt Knecht Ruprecht ein
Geschlagen geben wollte sich die Stadt von den volkskundlichen ‚Gralshütern‘ jedoch nicht. Kurzerhand beschloss der Gemeinderat, dass sich anstatt des Weihnachtsmanns Knecht Ruprecht „dieses modernen Verkehrsmittels bedienen“ solle. Am 14. Dezember 1952 landete der Helfer des Weihnachtsmanns mit einem „amerikanischen Hubschrauber“ auf dem städtischen Sportplatz. Laut Zeitungsbericht nahmen „Tausende“ an diesem Spektakel teil.
Über Geschmack lässt sich (nicht) streiten
„Ob der Weihnachtsmann in einem Kraftwagen oder Hubschrauber kommt, ist letzten Endes gleichgültig“, erwiderte der Geislinger Bürgermeister 1952 auf das Protestschreiben des Landestellenleiters. Es läge „im Laufe der Zeit, auch das Auftreten des Weihnachtsmannes zu technisieren“. Der Geislinger Bürgermeister war davon überzeugt, dass sich Bräuche und Traditionen ganz selbstverständlich mit der Zeit verändern und dies auch müssen, um den Bedürfnissen einer Stadt sowie der Menschen, die darin leben und arbeiten, gerecht zu werden. Wenn nötig, müsse man dann eben auch „Stilwidrigkeiten“ und „üblen Kitsch“ akzeptieren.
Traditionen lassen sich nicht einfrieren – auch im Winter nicht
Der damaligen alltags- und lebensnahen Ansicht des Geislinger Bürgermeisters gibt es heute seitens der Landesstelle für Volkskunde nicht viel hinzuzufügen: Weihnachtstraditionen lassen sich nicht einfrieren – auch im Winter nicht. Der Weihnachtsmann ist in Bewegung und mit ihm die weihnachtlichen Traditionen. Dieses Jahr können die meisten von uns Weihnachten nicht wie gewohnt feiern. Warum also nicht gerade dieses Jahr zu Weihnachten mit alten Traditionen brechen und etwas völlig Neues ausprobieren?
Headerbild: Ausschnitt aus Foto eines Weihnachtsmannes vor einem Hubschrauber, Kiel 1970. CC BY-SA 3.0 de