Seit fast 20 Jahren lebt Tim Schleider in Stuttgart und bekommt dennoch häufig die Frage gestellt, ob er sich denn gut eingelebt hätte. Ob das eine besondere Koketterie der Schwaben ist, die sich durch diese Frage ein Kompliment für die Stadt und die Region erhoffen, oder ob es fortwährender Ausdruck ist, dem Gefragten verständlich zu machen, dass er immer ein „Reigschmeckter“ bleiben wird, ließ sich im Rahmen des Podiumsgesprächs zwischen mir und dem Leiter des Kulturressorts der Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten nicht klären.
Herr Schleider folgte unserer Einladung an dem Gespräch teilzunehmen nur unter Protest. Dies war allerdings ganz eindeutig Koketterie, den selbstverständlich ist Tim Schleider inzwischen ein Württemberger Kopf, und zwar einer, der kaum wie ein anderer mit der hiesigen kulturellen Landschaft vertraut ist und deren Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren kritisch begleitet hat. Eine bewegende Zeit für Stuttgart, das kulturelle Angebot wuchs beständig und die Stadt lernte ihre Migrationsgeschichte als Kapital zu entdecken. Beides ist längst nicht abgeschlossen und beides muss weiter verteidigt werden.
Jeder Gast in der Gesprächsreihe darf sich ein Objekt aus der Sammlung aussuchen (natürlich nicht, um es mit nach Hause zu nehmen), das für die eigene Biographie, die Arbeit oder für das Württembergische steht. Es verwundert nicht, dass Herr Schleider sich für das Gespräch aus unserer Sammlung ein Nazar ausgesucht hat, das im Museum der Alltagskultur in Waldenbuch gezeigt wird. Das Nazar, ein Schutz gegen den bösen Blick, das sich inzwischen in vielen Stuttgarter Taxen, aber auch Wohnungen findet, ist für unseren Gast längst zum Gegenstand württembergischer Alltagskultur geworden.
Ein Grundthema, das Tim Schleider von ganz besonderer Bedeutung ist: das Beenden der Unterscheidung zwischen „ihr“ und „wir“. Stuttgart hat nicht verschiedene Kulturen, sondern eine. Eine, zu der alle gehören, die hier leben und wirken und die von all diesen geprägt wird.
Wie stark Kultur durch die Politik geprägt werden kann, illustrierte Tim Schleider an Beispielen wie dem Kunstmuseum, dem Theaterhaus auf dem Pragsattel oder dem Stadtpalais. Daher fordert er auch einen aktiven Gestaltungswillen der Politik, wenn es um das Kulturquartier geht. Die Befürchtung, dass große und wichtige Projekte für die Stadtgesellschaft sich im Klein-Klein verlieren, lässt ihn appellieren bei solchen Themen in großen Linien mutig zu denken.
Für mich als Moderator war es ein erhellender Abend mit einem wunderbaren Gast, der es mir als Anfänger nicht schwer gemacht hat. Tim Schleider ist ein Gast der textsicher ist, egal ob man ihn mit Hölderlin begrüßt oder mit den Massiven Tönen verabschiedet; eben ein Württemberger durch und durch.